Freitag, 9. Dezember 2011

[Gaia] Die Blume

Eine kleine Geschichte aus Gaia für den WB-Adventskalender von meinem Schatz, welche heute auch dort auch erschienen ist:

Es war ein klarer Morgen. Die Sonne hatte sich erst vor kurzem über den Horizont geschoben und überflutete die Welt mit goldenem Licht. Die angenehme Kühle der Nacht hatte die Pflanzen mit einer funkelnden Tauschicht bedeckt. Sie würde erst in einigen Stunden der wärmenden Kraft der Sonne weichen.
Diese Zeit des Tages, wenn die Natur gerade erwachte, während der Haushalt des Leviatans noch schlief, war Sitas Lieblingszeit. Sie hatte sich leise aus ihrem Zimmer geschlichen und saß nun, noch in ihr knöchellanges seidenes Nachthemd gekleidet, auf einer Sandsteinbank inmitten eines kleinen Gartens. Die Gärtner hatten Gräser und Sträucher sauber gestutzt und die Blumenbeete akkurat angelegt. Die Pflanzen bildeten mit ihren in leuchtende Farben getauchten Blüten prachtvoll angelegte Muster. Die Gärtnerskunst, die anderen Besuchern des Gartens Gefühle von Harmonie und Entspannung vermitteln sollte, nahm Sita jedoch gar nicht wahr. Sie saß mit geschlossenen Augen inmitten des Lebens und atmete die kühle, Feuchtigkeitsgeschwängerte Luft. Sita sah den Garten auf ihre eigene Art. Sie sah ihn mit ihrem dritten Auge, wie ihre Adda es nannte. Sita wusste nicht was das bedeutete, denn sie hatte an ihrem Körper kein drittes Auge entdecken können, obwohl sie gründlich gesucht und sich von allen Seiten im Spiegel betrachtet hatte.
Ihre Adda war sehr glücklich gewesen, als ihr Sita vor einigen Monaten erzählt hatte, dass sie die goldenen Fäden, die sich netzartig durch die Welt zogen, sehr mochte, weil sie schön glitzerten. Adda hatte vor Freude geweint und gesagt, dass dies ein Zeichen großer Begabung sei und ihrer kleinen Familie viel Glück bringen würde.
Sita konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Besonderes wäre, die goldenen Fäden zu mögen, wo sie doch so schön funkelten. Aber wenn ihre Adda das sagte, dann würde es schon richtig sein.
Sita saß also mit geschlossenen Augen da und konnte sich so ganz auf das funkelnde Goldgeflecht des Gartens konzentrieren. Sie verfolgte gespannt einen einzelnen Lichtfaden der von dem Geflecht einer Blume weg auf sie zu verlief. An einer Stelle kräuselte er sich, dann verlief er wieder schnurgerade und schließlich verschwand er in ihrem eigenen Geflecht, etwa an der Stelle, wo sie ihre Brust sehen würde, wenn sie die Augen aufschlug. Direkt daneben flogen andere Goldfäden aus ihr heraus und erstreckten sich, weite Bögen beschreibend oder sacht und harmonisch schwingend, in das Netzwerk des Gartens hinein. Obwohl Sita schon viele Stunden damit verbracht hatte, das Geflecht des Gartens zu studieren, ergriff sie immer wieder ein freudiges Glücksgefühl, wenn sie betrachtete, wie alles Lebende miteinander in Verbindung stand. Wie sich die sachten Schwingungen ihres Körpergeflechts langsam auf die geraden, strengen Linien der Sandsteinbank unter ihr übertrugen und wie auch die Sonne goldene bebende Linien in die Welt aussandte. Manchmal, wenn sie ganz alleine war, zupfte Sita sacht an den Goldfäden, erzeugte sanfte Vibrationen oder verbog eine der Linien mit einer kleinen Handbewegung. Auch heute spielte Sita wieder auf dem Geflecht ihrer Lieblingsblume. Es war eine zierliche Blume mit einer weißen Blüte, deren Kronblätter so zart waren, dass das Licht durch sie hindurch schien. Als Sita das erste Mal in den Garten gekommen war, war ihre Blume klein und kümmerlich gewachsen und lugte kaum unter der großen Kakhumahecke hervor. Aber obwohl sie klein und unscheinbar gewesen war, mochte Sita die kleine Pflanze, die sich gierig nach dem Licht reckte und sich verbissen weigerte das Leben loszulassen und im Schatten zu vergehen. Sita hatte an ihren Fäden gezupft und sanft an ihnen gezogen. Liebevoll hatte sie ihre Finger über die güldenen Linien gleiten lassen, gleich einer Harfenspielerin, die zärtlich über die Saiten ihres Instruments streicht und ihm liebliche Klänge voll Harmonie und Schönheit entlockt. Und wie das Spielen der Harfenistin dem Instrument anmutig schwebende Musik entlockt, so entlockte Sitas Spiel der Blume Anmut und Schönheit und die Blume entfaltete ihre filigrane Blüte und sandte ihren betörenden Duft aus. Da lächelte Sita und atmete den Duft ihrer Blume ein und sie liebte ihre Blume, die nur für Sita ihre Blüte öffnete und nur für Sita duftete. Glück. Ein wohliges Gefühl von Zufriedenheit durchströmte Sita. Sie fühlte sich geborgen, sie fühlte sich im Einklang mit allem was sie umgab. Mit den Pflanzen des Gartens, mit dem kleinen Käfer der gerade an ihrer Blume empor kroch, die Flügel noch klamm und verklebt vom Morgentau. Ja selbst die Würmer unter der Erde spürte Sita und war mit ihnen im Einklang.

Doch plötzlich fühlte Sita in der Ferne ein Zupfen an den goldenen Fäden. Es war so sacht und zart, dass sie es fast nicht bemerkt hätte, doch jetzt, da sie ihre Aufmerksamkeit auf diese neue Wahrnehmung lenkte, konnte sie es deutlich erkennen. Etwas versetzte das goldene Geflecht des Gartens in Schwingung. Und die Quelle dieser Veränderung kam näher, denn das Zupfen wurde stärker und Sita spürte jetzt die Disharmonie dieser neuen Bewegung. Sie fügte sich nicht ein, sie wurde nicht eins mit dem Geflecht. Vielmehr riss sie an den goldenen Strahlen, brutal, hart, grausam. Verbog sie, zertrümmerte sie. Sita hasste diese Veränderung. Und sie hasste und fürchtete zugleich ihre Quelle. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Da bemerkte sie, dass die Sonne aufgegangen war und sich schon eine handbreit über den Horizont geschoben hatte.
Sie hatte die Zeit vergessen und hatte ihre Unterrichtsstunde versäumt! Sita sprang sofort von der Bank auf und drehte sich den Dienstbotengebäuden zu. Sie wollte nach drinnen laufen und sich schnell fertig machen, doch da sah sie ihn schon. Pharos. Ihr Onkel kam auf sie zu. Mit finstrer Miene kam er näher. Dabei ging er nicht, sondern er schwebte, wie üblich, etwa eine Handbreit über dem Boden. Dies war, wie Sita jetzt erkannte, auch der Ursprung des Reißens und Bebens, das das goldene Geflecht erschüttert hatte. Sita erstarrte.
Onkel Pharos kam direkt auf sie zu und als er sie erreicht hatte, baute er sich vor ihr auf. Er hatte einen Kaftan aus kostbaren Seidenstoffen angelegt, der reichlich mit goldenen Stickereien verziert war. An den Füßen trug er Pantoffeln aus weichem Leder, die mit Seide überzogen und mit goldenen Pailletten verziert waren. In der Hand trug er einen dünnen Stock aus Bambus. Seine Schulterlangen schwarzen Haare hatte er zu einem strengen Zopf zusammen gebunden und zwischen den scharfen Linien seiner Augenbrauen ragte eine steile Falte auf. Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten dunkel vor Zorn. „Sita...“ zischte er gleich einer Schlange. „der Unterricht hätte schon vor einer halben Stunde beginnen sollen. Wieder musste ich meine kostbare Zeit an dich verschwenden, weil du deinen nutzlosen Tagträumen nachgehangen bist.“ „Es tut mir Leid, Onkel.“ Erwiderte Sita. „Nenn mich nicht Onkel!“ Fauchte Pharos. „Ich bin nicht dein Oheim, ich bin dein Lehrer und dein Unvermögen oder deine Unwilligkeit Interesse an meinem Unterricht zu zeigen und pünktlich zu sein beschämen mich.“ „Entschuldigung, Meister.“ Murmelte Sita. Pharos Stimme troff vor Verachtung: „Deine Mutter mag von deinem Talent überzeugt sein, aber in diesem ehrwürdigen Haus obliegt die Beurteilung der Adepten allein mir. Und wenn du meinen Erwartungen nicht gerecht wirst, dann werde ich dich und deine Mutter aus unserem Haus zu entfernen wissen.“ Sita zitterte. Die unverhohlenen Feindseligkeiten trafen sie wie Nadelstiche ins Herz.
Onkel Pharos war der jüngere Bruder von Sakash, dem Herren des Hauses. Er war der oberste Magier des Hauses und war mit der Erziehung und Ausbildung von Sita und ihrem Vetter Dobin in magischen Dingen beauftragt worden. Pharos war nicht wirklich Sitas Onkel, das hatte ihre Adda gesagt, aber weil Addas Schwester die zweite Frau von Sakash und Dobins Mutter, die Mutter des Erben, war, war Sita praktisch mit Pharos verwandt. Sie waren eine Familie. Das hatte Adda gesagt. Pharos war da offensichtlich anderer Meinung.
Pharos kniff die Augen zusammen und musterte Sita. Dann landete er auf den polierten Bodenplatten und ging langsam um Sita herum. Als er wieder vor ihr stand, sagte er: „Zeig mir die Übungen.“
Sita hob gehorsam die Hände und begann die komplizierten Muster in die Luft zu zeichnen, die ihr Pharos gezeigt hatte. Sie riss dabei an den goldenen Fäden. Zerfetzte einige, durchschnitt andere, lenkte sie um. Sie verstand nicht, warum sie diese Übungen machen musste, doch Pharos Augen hafteten auf jeder ihrer Bewegungen und sie wagte es nicht, aufzuhören, bevor er ihr nicht die Erlaubnis dazu gab.
Also machte sie weiter und das goldene Netzwerk des Gartens begann zu beben. Sie fuhr fort, bis jede einzelne der Linien ein Zittern durchlief und Sitas Blume, die besonders stark mit ihr verbunden war, durchlief ein heftiges Beben und ihr Geflecht drohte auseinander zu brechen. Da ließ Sita erschrocken die Hände sinken und Pharos Augen flammten auf. Sita sah Zorn aber auch Genugtuung in ihnen.
„Zeig mir deine Hände.“ Befahl er kalt. Sita streckte zögernd die Hände nach vorne und blickte angstvoll zu Pharos. Ihre Blicke trafen sich und Sita konnte den Hass sehen, der wie ein blutrünstiges Monster hinter Pharos Augen tobte. Da sauste plötzlich der Bambusstock herab und traf Sitas ausgestreckte Hände. Schmerz flammte auf und Sita schossen Tränen in die Augen. Auf ihren Händen erschien eine leuchtend rote Linie und Sita konnte das Schluchzen, das in ihrer Kehle steckte nur schwer unterdrücken. „Vielleicht wird dich das lehren, meinem Unterricht mit mehr Eifer zu verfolgen.“ Pharos lächelte kalt. Er ging auf den Garten zu. „Und vielleicht hilft es deiner Konzentration, wenn ich einige Ablenkungen beseitige...“ Und wieder sauste der Bambusstab herab und traf wie eine Sense zwischen die Blumen des Gartens. Die leuchtenden Blüten fielen zu Boden, als wären sie enthauptet worden. Und Pharos ging weiter und wieder schlug er auf die Pflanzen ein. Und bei jedem Schlag zuckte Sita zusammen als hätte der grausame Stecken sie selbst getroffen. Das Leben floss aus den Pflanzen heraus. Goldfäden, die eben noch vor Lebenskraft vibriert hatten, verstummten, standen still oder lösten sich in feinen Staub auf und zerfielen. Sita rannen Tränen über die Wangen, aber sie wagte nicht einen Laut von sich zu geben. Da stand Pharos plötzlich vor der Kakhumehecke und sein Blick fiel auf Sitas Blume, die sich unter dem dichten Gebüsch hervorgekämpft hatte und sich nun Richtung Sonne reckte. Sita stockte der Atem. Ihr Herz hämmerte wild gegen ihren Brustkorb, als wolle es herausspringen, und ihre Knie begannen zu zittern. Da sauste noch einmal der Bambusstecken herab, zerfetzte die zarte Blüte, durchbrach den schlanken Hals der Blume und enthauptete sie. Und als die edle Blüte zu Boden fiel, fiel auch Sita auf den harten Steinboden nieder und unbändiges Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Sita hörte Pharos Schritte als er auf sie zukam und vor ihr stehen blieb. Ohne eine Gefühlsregung sagte er: „Sei morgen pünktlich.“ Dann begann das Reißen und Beben von Pharos Levitationszauber wieder und er erhob sich über den Boden und schwebte davon.
Sita hob den Blick und sah die Verwüstung, die Pharos im Garten angerichtet hatte, die abgeschlagenen Blumenköpfe, die achtlos auf dem Steinplatten der Wege verstreut lagen und dort zertreten worden waren. Und zwischen all den Blumen lag auch Sitas Blume. Ihr Geflecht war zerrissen und die Fäden, die harmonisch ineinander verschlungen gewesen waren, endeten nun lose, gleich einem ausgefransten Stück Seil. Sitas Schluchzen erstarb. Ihr ganzer Körper bebte. Zorn wallte in ihr auf. Pharos.
Sie drehte sich in die Richtung um, in der er davon schwebte und voll Ekel spürte sie das behäbige, plumpe Beben seines Levitationszaubers. Da packte Sita einen der goldenen Fäden, strich mit ihrer Hand darüber und mit einer winzigen Bewegung ihres Handgelenks sandte sie eine Schwingung in den Faden aus, die wie eine Welle an der goldenen Linie entlang lief. Und als sie Pharos erreichte, zertrümmerte sie mit geradezu absurder Leichtigkeit Pharos Zauber und Pharos, dem plötzlich der Boden unter den Füßen wegbrach, stolperte und fiel der Länge nach hin. Er blieb wie betäubt einen Moment liegen, bevor er sich aufrappelte und überrascht und verwundert an sich herunter sah. Während er noch zu verstehen versuchte, was gerade geschehen war, traf sein Blick auf Sita, die immer noch am Boden kniete, und die Verwunderung in seinen Augen wurde augenblicklich wieder zu Zorn. Er wirbelte herum und lief raschen Schrittes auf das Haupthaus zu. Sita schaute ihm verdutzt hinterher. Schon einen Herzschlag, nachdem sie die Welle an dem goldenen Faden entlang geschickt hatte, hatte sie es schrecklich bereut, denn sie hatte gewusst, dass Pharos sie fürchterlich bestrafen würde und doch war er einfach gegangen, als ob er gar nicht verstanden hätte, dass es Sita war, die ihn zu Fall gebracht hatte.
Sita schaute noch einen Augenblick in die Richtung, in der Pharos verschwunden war, dann stand sie auf und ging in den verwüsteten Garten hinein. Sie schritt den Steinweg entlang und achtete darauf, auf keine der Blüten zu treten, bis sie schließlich vor ihrer Blume ankam und vor ihr niederkniete.
Sanft hob sie die zarte Blüte auf und barg sie in ihren hohlen Händen. Dann schloss sie die Augen, damit sie die goldenen Linien deutlicher sehen konnte und griff nach einem der losen Enden. Sie öffnete ihre Hände und führte den Faden wieder zu seinem Gegenstück und verband sie wieder miteinander und so machte sie es mit jeder der zerrissenen Linien und als sie damit fertig war und das Geflecht wieder zusammengefügt war, griff sie an die goldenen Linien und strich sanft über sie hinweg. Zupfte dort, wo eine Schwingung sein sollte, beruhigte die Linien dort, wo sie bewegungslos ruhen sollten, bis alles wieder im Einklang war. Sita lächelte und war wieder glücklich.
Und als sie ihre Augen aufschlug, stand vor ihr ihre Blume. Sie hatte ihre alabasterfarbenen Kronblätter weit geöffnet und verströmte ihren betörenden Duft.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen